Das Unbehagen an der Lücke

Die Ausstellung »ZOK ROARR WUMM – Comics in Westfalen« der LWL-Literaturkommission in Verbindung mit dem Museum für Westfälische Literatur, die vom 7. Juli bis zum 29. September 2024 im Kulturgut Haus Nottbeck zu sehen sein wird, präsentiert nicht nur Originalzeichnungen von u.a. Line Hoven, Ralf König und Stephan Rürup, sondern auch Kuriositäten aus meiner Comicsammlung. Am 23. August 2024 gestalte ich überdies im Kulturgut einen literarischen Abend über Comics, an dem ich aus alten und neuen Texten lesen werde, darunter aus meinem neuen, noch unveröffentlichten Roman. Für den Ausstellungskatalog hat Museumsleiter Stefan Höppner ein Interview mit mir geführt, das ich freundlicherweise in diesem Blog abdrucken darf.

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Marc, Du bist seit Deiner Kindheit ein intensiver Comic-Leser. Wie ist es dazu gekommen und was hast Du am liebsten gelesen?

Noch bevor ich lesen konnte, habe ich Comichefte durchgeblättert und war fasziniert von den Zeichnungen und Sprechblasen. Als Kind las ich dann »Micky Maus«- und »Yps«-Hefte, Lustige Taschenbücher, Werbecomics von Versicherungen, etwa die »Provi-Stars«, oder von Eissorten, zum Beispiel »Dolomiti«, das war damals mein Lieblingseis. Mein Onkel las wiederum vermeintlich anspruchsvollere Comics wie »Prinz Eisenherz«, »Trigan« oder »Flash Gordon«, die ich mit Sorgfalt und unter strenger Beobachtung ebenfalls lesen durfte. So kam ich auch mit »Nick Knatterton« und »Tim und Struppi« in Berührung. Ein Nachbar wiederum hatte Kontakte zur Girardet Druckerei in Essen, wo das »Micky Maus«-Heft gedruckt wurde, und er hatte sich die Hefte jahrgangsweise binden lassen. Auch diese Bände durfte ich lesen. Sporadisch las ich außerdem Superheldencomics von DC. Superman, Wonder Woman und vor allen Dingen Batman, eine Gestalt, die mich nachhaltig beeindruckte. Der dunkle Rächer. Wahrscheinlich trage ich deshalb heute auch so viel schwarz. Am liebsten habe ich als Kind aber die Disney-Comics mit Donald Duck gelesen. Vor allen Dingen die von Carl Barks gezeichneten und von Erika Fuchs übersetzten längeren Abenteuer. Sie stachen aus der Masse an Comics einfach heraus. Wegen ihrer Originalität, ihrer erzählerischen Qualität und ihrer künstlerischen Perfektion.

Du bist seit Deiner Kindheit Comic-Sammler. In unserer Ausstellung zeigst Du auch einige Disney-Memorabilia. Wie hat das mit dem Sammeln angefangen und was sammelst Du heute?

Mein Stiefvater brachte mir von seinen Trödelmarktbesuchen oft stapelweise gebrauchte Comichefte mit, die er billig für mich kaufte, weil ich sie so gerne las. Der Zustand der Hefte war mir egal. Die doppelten tauschte oder verschenkte ich, und ich fing an, Fehllisten mit den fehlenden Ausgaben anzulegen. Wenn mir etwas gefiel und ich für eine Sache brannte, dann wollte ich auch alles davon haben, da war ich Komplettist und spürte bei einer Lücke Unbehagen. So erging es mir damals auch mit Die-drei-Fragezeichen-Hörspielkassetten oder mit Panini-Fußballbildern. Doch während ich irgendwann aufhörte, Die-drei-Fragezeichen zu hören oder neue Sammelalben zu bekleben, so wie ich irgendwann auch die Lust verlor, »Micky Maus«- oder »Yps«-Hefte zu lesen und zu kaufen, blieb ich dem Medium Comic treu und machte Jahr für Jahr neue aufregende Entdeckungen. Storm, Corto Maltese, Bilal, Ralf König, Robert Crumb, Maus, die Toronto Three, Persepolis, Gabrielle Bell, Donjon, Der Araber von morgen. Als Kind habe ich sogar Comichefte, die mir besonders wertvoll erschienen, mit dem Folienschweißgerät aus der Küche meiner Eltern eingeschweißt, damit sie die Zeiten unbeschadet überdauern und mir meinen Lebensabend finanzieren würden. Mittlerweile weiß ich, dass Comics keine gute Wertanlage sind, weil sie so viel Platz beanspruchen und weil der Markt für sie wie bei fast allen popkulturellen Erzeugnissen recht kurzlebig und starken Schwankungen unterworfen ist. Als Anlage würde ich daher eher zu Gold und Diamanten raten, wobei ich kürzlich gelesen habe, dass der Diamantenkurs durch synthetisch hergestellte Edelsteine stark unter Druck gerät. Wie auch immer. Inzwischen betrachte ich meine Comicsammlung in erster Linie als Gebrauchsbibliothek und persönlichen Handapparat, der hauptsächlich Comics enthält, die ich alle noch einmal lesen, betrachten oder vergleichen möchte. Angesichts der Masse schwant mir allerdings, dass der Anteil der Comics an meiner Sammlung, die ich vornehmlich aus nostalgischen und sentimentalen Gründen behalte, viel größer ist, als ich zugeben möchte.

Was sind Dir die liebsten Stücke Deiner Sammlung und warum?

Die Lieblingsstücke meiner Sammlung sind die Neuzugänge, die ich zum ersten Mal lese und die mich begeistern. Die neue Türen öffnen. Das können Klassiker sein, aber auch Neuerscheinungen. Comics, die ich noch nicht kannte, die mich beim Lesen berühren und fesseln. Am besten natürlich von Comicmacher*innen, die schon einige Bände veröffentlicht haben, damit ich schnell noch mehr von ihnen lesen kann. Solche Entdeckungen können dann auch leicht zur Obsession werden. Zuletzt erging es mir so mit Simon Hanselmann und seiner Serie »Megg, Mogg and Owl«. Zur ungefähr gleichen Zeit habe ich auch noch die Comics von Anna Haifisch und Lisa Hanawalt entdeckt. Plötzlich platzte mein alphabetisch sortiertes Comicfach bei den Buchstaben HA aus allen Nähten.

Welche Zusammenhänge siehst Du zwischen Deiner Vorliebe für Comics und Deiner Arbeit als Schriftsteller? Wie ist das in Deine bisherigen Werke eingeflossen, zum Beispiel in den Reisebericht Toronto, der Deine Zeit in der kanadischen Metropole behandelt?

Als Comicfan und Comicleser ist Kanada für mich ein Schlaraffenland. Weil dort zwei Traditionen zusammenkommen. Einerseits die US-amerikanische Comicwelt, also Disney, Superhelden und Indepententcomics, zum anderen durch die Frankophonie der europäische Einfluss, also Tim & Struppi und die Ligne claire. Deshalb habe ich in meiner Zeit in Kanada auch viele Begegnungen mit Comiczeichner*innen gehabt, war auf Comicpräsentationen und habe viele Comicläden besucht. Das ist alles auch in mein Toronto-Buch eingeflossen. Aber nicht nur thematisch haben Comics mein Schreiben geprägt. Sehr beeindruckt und beeinflusst haben mich die autobiographischen Independentcomics, die Anfang und Mitte der 90er Jahre entstanden sind. Von Julie Doucet und den Toronto Three, also Chester Brown, Joe Matt und Seth, und die im Verlag Drawn & Quartely in Montréal veröffentlicht wurden. Ich entdeckte in diesen Comics eine radikale autobiografische Offenheit und Schonungslosigkeit, die ich aus der Literatur nicht kannte. Das habe ich mir immer so erklärt, dass die Comicmacher*innen zwar die härtesten Wahrheiten sagen und aussprechen, aber diese Ungeheuerlichkeiten und Abgründe mit ihren Zeichnungen abfedern, etwa mit komischen, niedlichen oder schönen Panels. Für meine eigenen autobiografischen Texte und Bücher war diese erzählerische Offenheit jedenfalls vorbildhaft.

Siehst Du künstlerische Parallelen zwischen den Medien Comic und Buch?

Es gibt ein paar Parallelen, etwa im Handlungsaufbau und beim Plotten komplexer Geschichten, außerdem benutzen die meisten Comics ja auch Sprache und häufig Dialoge. Doch viel mehr Parallelen sehe ich zwischen den Medien Comic und Film. So haben Filmdrehbücher und Comicskripte starke Ähnlichkeiten, und die Storyboards bei Filmen sind ja selbst schon halbe Comics. Für mich jedenfalls sind Comics vorrangig ein visuelles Erlebnis, und ich besitze einige Comics, die prima ohne Worte auskommen, aber einen überzeugenden Comic, der ohne Bilder auskommt, habe ich noch nicht entdeckt.

Dein aktuelles Romanprojekt spielt an einer fiktiven Comic-Akademie im Ruhrgebiet. Wie heißt es und wie bist Du auf diesen Stoff gekommen?

Im Moment baue ich den Roman zu einer Trilogie um, die den Arbeitstitel »Die Verführung der Minderjährigen« trägt. Der Titel bezieht sich auf das Buch »Seduction of the Innocent« des deutsch-amerikanischen Psychiaters Fredric Wertham, der 1895 als Friedrich Ignatz Wertheimer in Nürnberg geboren wurde. In seinem 1954 veröffentlichten Buch versuchte Wertham die Schädlichkeit von Comics nachzuweisen und verglich die Hersteller und Verleger von Comics mit sadistischen Vampiren. Wertham war ein konservativer Populist, dessen Thesen sehr einflussreich waren und in Amerika zu einer Selbstzensur der Comicindustrie führten, die über fünfzig Jahre lang andauerte. Auch in meinem Werk geht es um eine Art Vampirismus – und zwar um einen Plagiatsskandal, der im Comicmilieu spielt.

-> Link zur Veranstaltung am 23. August 2024

WRONG

Freitag, 17. Mai 2024, Hamburg

Um 3 Uhr 30 wach geworden und bestimmt anderthalb Stunden lang wachgelegen und nachgedacht. Um 6 Uhr 30 vom Wecker geweckt. Kaffee und lesen im Bett, danach Morgengymnastik und Haferbreifrühstück. Es klingelt an der Tür. Mein Nachbar steht im Flur und sagt, dass er ein Paket für mich angenommen habe. Voller Spannung trage ich das Paket in die Küche und öffne es. The Carl Barks Library of Walt Disney’s Donald Duck Schuber VIII. Die drei Bände, die ich günstig auf ebay erworben habe, sind in einem Superzustand. Riesenfreude!

Beantwortung der Fragen für das Interview für die Comicausstellung im Museum für Westfälische Literatur auf Haus Nottbeck. Um kurz nach halb zwölf verlasse ich die Wohnung und esse einen Dürum Döner. Danach Telefonat mit meiner Tante, die mich auf dem Handy angerufen hat und mir schöne Feiertage wünscht. Kaum bin ich wieder zuhause, erhalte ich eine E-Mail: Das neue Goetz-Buch da! Ab zur Buchhandlung Lüders. Dort kaufe ich nicht nur »wrong«, sondern für elf Euro antiquarisch auch Walter Kempowskis Haftbericht »Im Block«. 

Um 13 Uhr 20 mit »wrong« ins Bett. Ich bin fasziniert von dem fast schon kitschigen Familienfoto hinten im Buch: Rainald Goetz und seine Frau, umringt von den drei Kindern in idyllischer Eintracht auf dem Sofa. Der Dichterpunk als Familienmensch und Papa.

Lesen und Schlaf. Hinterher Kaffee und posten des Fotos und des Covers auf meinem Instagramkanal: »☑️ #wrong #RainaldGoetz #Schlucht«

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David Wagner kommentiert das Bild auf meinem Kanal: »so ein blöder Kitsch.«

Thorsten Krämer: »das foto ist nicht echt, oder?«

Jonas Rump: »Ich will den Raver Goetz zurück«

agumz: »er sieht alt, senil und glücklich aus. wunderbar.«

Thorsten Krämer teilt das Bild in seiner Instagram-Story und schreibt dazu: »Was Ihnen an Rainald Goetz schon immer suspekt vorkam – hier jetzt in einem Bild zusammengefasst«

Nachmittags weiter am Gian-Text. Abends fernsehen.

Samstag, 18. Mai 2024, Hamburg

Bis 7 Uhr 20 geschlafen. Kaffee und lesen im Bett. buchmarkt.de schreibt in der Vorgeblättert-Rubrik hinsichtlich der Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über die beiden neuen Bücher von Rainald Goetz: »Zwei neue Bücher des Autors der Gegenwärtigkeit versammeln Texte und Stücke aus den vergangenen Jahren. Und machen in ihrer Gestrigkeit ratlos.«

Gewiss, das Goetz-Buch ist gestrig und das Familienfoto kitschig – dennoch mag ich »wrong« und finde darin auf Anhieb viele kluge Gedanken. Etwa Goetz‘ Unterteilung in Schriftsteller*innen, deren Schreiben aus dem Erzählen, und solche, deren Schreiben aus der Sprache kommt. Das finde ich sehr plausibel. Goetz selbst sieht sich als Sprachautor, was zur Folge habe, dass sein Schreiben sehr dem Deutschen verhaftet sei. Das macht es schwer, seine Literatur zu übersetzen, gleichzeitig prädestiniert es ihn für die Bühne. Ich wiederum glaube für mich, dass ich, obwohl ich viel Wert auf Stil lege, eher ein Autor bin, der vom Erzählen kommt. Meine Bücher und Texte leben von der Geschichte, ließen sich gewiss auch gut verfilmen oder übersetzen, aber wahrscheinlich bin ich deshalb auch kein Autor für die Bühne und von Theaterstücken geworden.

Gut zu wissen.

Morgengymnastik und Frühstück.

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Ich hasse Dur!

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Dienstag, 12. Dezember, Hamburg

Um 17 Uhr mit dem Bus zur Holstenstraße und dann mit der S-Bahn nach Harburg in die Sammlung Falckenberg zu Katharina Duves Führung durch die Cindy Sherman Ausstellung unter dem Titel »Tarnung Parole Aneignung – Kleidung als politische Performance«. Ich komme um Viertel vor sechs an, treffe Anna Lena, ein paar Minuten später stößt auch Felix dazu.

Um Viertel nach sechs beginnt Kati mit der Führung – zu ihren hochhackigen Lederschuhen mit Schlangenmuster trägt sie eine helle Hose und ein weißes Shirt, die sie beide von oben bis unten und kreuz und quer mit ihren Notizen und Referenzbildern bedruckt, beschrieben und beklebt hat. Kati trägt ihren Spickzettel somit am Körper. Obwohl die Führung auf 20 Personen begrenzt ist, nehmen am Ende 30 Personen am Rundgang teil. Katharina führt uns zu ausgewählten Bildern und spricht auf kluge und persönliche Weise über Shermans Werke, die Hintergründe ihrer modischen Arbeiten und über ihren enormen Einfluss auf die ihr nachfolgenden Künstler*innen, zu denen sich auch Katharina zählt. Die Führung ist recht unakademisch, dafür lebendig, witzig und leicht. Und obwohl Kati uns am Anfang aufgefordert hat, jederzeit Fragen zu stellen und sie zu unterbrechen, muss sie doch fast die ganze Zeit reden. Es macht aber auch viel Spaß, ihr zuzuhören – und natürlich geht es ja auch, wie Kati anfangs scherzhaft sagte, in erster Linie um sie.

Nach über einer Stunde ist die Führung beendet und wir kommen in einen Raum mit Tischen, Stühlen, Wein, Wasser und Snacks, setzen uns zusammen und Kati macht noch einen kleinen Input mit ihren eigenen Werken und zeigt Filmausschnitte, Instagramvideos und Fotos. Es ist wie eine zweite Vorlesung und ich bewundere Kati für ihre Ausdauer und ihren Enthusiasmus. Sie schont weder sich noch uns. Danach sitze ich mit Felix zusammen. Wir trinken Wein und führen heitere Gespräche, über Madeira, wo Felix kürzlich auf einem Festival war, über Filmmusiken, die Youtube-Audio-Library, den großartigen Henry Mancini, den genialen Ennio Morricone und den verabscheuten Hans Zimmer. Schließlich beugt Felix sich vor, blickt mich an und erklärt mit Verzweiflung in der Stimme: »Ich hasse Dur!«

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Zwischenstopp

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Hallo Dortmund! Ich freue mich, nächsten Donnerstag (29.2.2024) in der Reihe ZWISCHENSTOPP Gast zu sein und zum ersten Mal meinen noch in Arbeit befindlichen Roman vorzustellen. Der Abend wird veranstaltet vom Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt und moderiert von deren Direktorin Iuditha Balint. Los geht es um 19 Uhr im Rekorder II (Scharnhorststraße 68, 44147 Dortmund), der Eintritt ist frei.

Advice to the young: Wole Soyinka

»the advice which I would have for young writers coming is simply prepare to collect your rejection slips. put those slips in your cupboard, in your drawer, put the slips there and continue writing. other you move away from what you wrote originally. you can go back to it, read it, go for a walk, go for a beer, do something different, but come back and start writing. get another rejection slip, open that drawer, shove it in there. it’s part of your mementos. it’s souvenirs, but ultimately you’ll find, send your material, not just to publishers, but to literary journals, to regular journals, which have however literary pages.«

»one thing which I would advise you not to do is, especially if you have money or your parents have money: self-publishing is a last resort. you know is a last resort. try and get other people to assess you, not you assess yourself.«

Clue #2

Dies ist kein Wasser

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Obwohl ich Giancarlo DiTrapano nicht persönlich kennengelernt habe, hat er mich als Schriftsteller und SUKULTUR -Verleger enorm beeinflusst. Heute erschien in der Samstags-FAZ mein Porträt von ihm. In drei Tagen, am 30 Januar, wäre er 50 Jahre alt geworden. 

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