Eriwan. Aufzeichnungen aus Armenien 2
Das geregelte Leben
Weihnachten und Silvester verbrachten wir in Berlin. Ich hatte mir für Armenien eine superwarme, eierschalenfarbene Daunenjacke mit Pelzkragen gekauft, in der ich wie ein Hiphop-Sänger aussah, außerdem Spikes, die man sich unter die Schuhe schnallen konnte. Zudem genossen wir im Spreewald ein Wellness-Wochenende mit Candle-Light-Dinner in Deutschlands größer Streusiedlung – das Solebad war nur wenige Hausnummern von unserem Hotel entfernt, dennoch dauerte der Fußmarsch durch Regen und Kälte über eine halbe Stunde. Als wir Mitte Januar nach Armenien zurückkehrten, herrschten minus neunzehn Grad. Bianca, die ein paar Tage vor uns nach Eriwan zurückgekehrt war, hatte am Flughafen knapp drei Stunden auf ihre Koffer warten müssen, weil am Flugzeug die Ladeklappen des Gepäckraums zugefroren waren, bei uns ging zum Glück aber alles glatt. Rasch konnten wir unsere Koffer in Empfang nehmen und auch in unserer Wohnung war alles in bester Ordnung.
Trotz Temperaturen bis minus fünfundzwanzig Grad war der Winter bislang erträglich gewesen und weniger schlimm als befürchtet. Mit dem Gasofen im Wohnzimmer und den drei Stromradiatoren in Küche, Bad und Schlafzimmer ließ sich die Wohnung gut heizen, auch die mit Glasfaserfolie umwickelten überirdischen Wasserrohre vor der Tür trotzten der Kälte. Allerdings mussten wir dafür auch mit äußerst schlechtem Gewissen Tag und Nacht den Wasserhahn im Bad ein wenig laufen lassen.
Als zusätzlichen Kälteschutz hingen wir in der Diele einen schweren Vorhang auf, verschoben dabei die Garderobe und entdeckten im Fußboden ein faustgroßes Loch, das wir notdürftig mit einem unserer dicksten Sockenpaare stopften. Am nächsten Morgen fanden wir in der Küche ein ausgehöhltes Brot. Anscheinend hatten wir in der Wohnung eine Maus oder eine Ratte. Schon öfters hatten wir nachts in unserer Wohnung Geräusche gehört, die wie Drahtspannen klangen und erst jetzt kam uns in den Sinn, dass es sich dabei auch um Tier handeln konnte, das bei uns hauste. Gayane erzählte, dass unsere Vormieterin vor einem Jahr mit Mäusen zu kämpfen hatte und diese mit Fallen erfolgreich besiegt hatte. Der Brotraub blieb leider kein Einzelfall. Wenige Nächte später wurden die Erdnussbälle, die wir völlig überteuert auf dem Markt gekauft hatte, angeknabbert, und Tage später verschwanden die Koriander-Vorräte aus unserer Küche. Die Mäuse hier schienen echt alles zu fressen. Oder die Ratten.
Im Fernsehen waren Vox und Super RTL verschwunden. Ich suchte die Sender neu und initialisierte dabei den Satelliten-Receiver. Fortan fehlten auch Deutsche Welle, Arte und ARD. Es war eine Katastrophe, als deutschsprachige Sender blieben uns nur noch ZDF und Das Vierte. In den nächsten Tagen beschäftigte ich mich ausgiebig mit Satellitentechnik und las im Internet viele Stunden lang über Satellitengrade, Längen- und Höhenbreiten, leider ohne Erfolg. Kurz entschlossen kauften wir an einem Sonntagnachmittag in einem Fachgeschäft einen neuen Satellitenreceiver, der noch am gleichen Tag geliefert und installiert wurde. Ein toller Service, allerdings kostete es uns viele Nerven, den Installateuren den verwinkelten Weg zu unserem Haus live am Handy zu erklären.
Die fünf Flaschen Cola Light, die ich nach meiner Rückkehr in fünf verschiedenen Geschäften gekauft hatte, musste ich allesamt wegschütten, weil offenbar etwas mit der Rezeptur nicht stimmte und die Cola nicht schmeckte. Notgedrungen schwenkte ich auf Pepsi Light um, nachdem ich in Deutschland schon vor einiger Zeit von Cola Light auf Cola Zero umgestiegen war. Die Zielgruppe von Cola Zero waren angeblich Männer, denen Cola Light zu weibisch war, und bei jedem Schluck musste ich an den Satz eines Freundes denken: Cola Zero ist was für Nullen.
In Armenien konnte man keine Cola Zero kaufen, dafür Cola Light. Hier tranken die Männer, wenn überhaupt, richtige Cola und verarbeiteten damit wahrscheinlich, dass sie so oma-hafte Slim-Zigaretten rauchten oder ihre Zigaretten aus Spielautomaten griffen.
Essenstechnisch hatte ich ebenfalls eine große Umstellung vornehmen müssen, nachdem ich in Eriwans Supermärkten in wenigen Monaten sämtliche Packungen meines Lieblingsschmelzkäses »Master Buterbroda Mozzarella« aufgekauft und verbraucht hatte, die übrigens alle dasselbe Verfallsdatum trugen. Danach wurden die Fächer nicht mehr aufgefüllt und ich startete einen Selbstversuch mit »Master Buterbroda Emmentaler« und »Master Buterbroda Light«. Der Emmentaler ging aus dem Wettstreit als Sieger hervor und seither betrieb ich einen systematischen Aufkauf der Schmelzkäsescheiben, beobachtete mit wachsender Nervosität allerdings das allmähliche Verschwinden der roten Käsepackungen aus den Supermärkten.
Eine U-Bahnfahrt kostete in Armenien umgerechnet elf Cent, ein Kilo Brot neunundachtzig Cent. Für ein Bier zahlten wir im Restaurant einen Euro fünfzehn, für eine innerstädtische Taxifahrt einen Euro dreiunddreißig. Ein Schawarma-Sandwich kostete einen Euro vierundvierzig und einhundertfünzig Gramm meines Lieblingskäses einen Euro sechsundfünfzig. Für einen Liter Milch bezahlten wir einen Euro siebenundsechzig und für ein Kilo Bananen einen Euro dreiundsiebzig. Vierhundertfünfzig Gramm Marmelade kosteten einen Euro achtundsiebzig, so viel wie ein Salat im Restaurant. Für zwei Euro zweiundzwanzig im Monat kam die Müllabfuhr, genauso viel kosteten vier Rollen Klopapier. Eine Spielfilm-DVD kostete vier Euro vierundvierzig und eine Pizza im Restaurant vier Euro sechzig. Unsere monatliche Telefongrundgebühr betrug sechs Euro und die Miete für eine gewöhnliche Dreizimmerwohnung schwankte in Eriwan zwischen zweihundert und eintausendzweihundert Euro.
Erschreckend im Vergleich dazu waren die Monatslöhne. Ein Doktorand der Nationalen Akademie der Wissenschaft verdiente pro Monat elf Euro, ein Postdoktorand doppelt so viel. Das Monatseinkommen eines Kindergärtners betrug siebzig, das eines Universitätsprofessors ab einhundertdreiunddreißig Euro. Der Fahrer bei einer internationalen Organisation verdiente vierhundert und ein Dolmetscher bei einer internationalen Organisation eintausend Euro. Da die meisten Löhne in Dollar oder Euro berechnet wurden, jedoch nur in Dram ausgezahlt werden durften, litten die Menschen zusätzlich darunter, dass die Regierung den Dram künstlich stark hielt, ganz besonders in der Weihnachtszeit, in der viele Armenier Geldgeschenke von Verwandten aus den USA, Kanada und Frankreich erhielten. So war der Euro, trotz Allzeithoch, noch einmal kräftig gefallen. Ohne das Geld der Diaspora-Armenier wäre die Wirtschaft im Lande wahrscheinlich schon lange zusammengebrochen.
Ende Januar stand mit einer großen Auswahlsitzung Alexandras erste berufliche Bewährungsprobe ins Haus. Ein paar Schwierigkeiten galt es zu meistern. So wurden vor Monaten vereinbarte Termine kurzfristig abgesagt und war der Fahrdienst angeblich nie bestellt worden. Zum Glück konnte sich Alexandra auf Meri und Ani verlassen, die drei wurden dabei von einer weiteren Hilfskraft unterstützt, die ebenfalls Ani hieß und Tag und Nacht ohne Klage den langsamsten Kopierer der Welt bediente. Als die vierköpfige Auswahlkommission schließlich in Eriwan landete, klappte alles reibungslos. Die Professoren waren nett, gut gelaunt und verstanden sich untereinander prima. Für die Auswahlen am Wochenende hatte die deutsche Botschafterin sogar ihre Residenz zur Verfügung gestellt. Es war kuschelig warm dort und die Bewerber waren entweder ausgezeichnet oder sorgten durch kuriose Verfehlungen für Erheiterung.
Am Samstagabend ging es zum Abendessen in das vor allen Dingen bei Expats beliebte Restaurant »The Club«. Der Abend mit der Kommission, der Botschafterin und einigen DAAD-Alumni war toll und auch das eher dürftige Essen konnte der schönen Stimmung nichts anhaben. Am nächsten Tag schlenderten wir mit der Kommission über die »Vernissage«, den großen Floh- und Kunstmarkt Eriwans, und die Kommissionsmitglieder deckten sich mit Schals, Bildern und Kognak ein. Der Jura-Professor kaufte zudem sämtliche verfügbare Fachliteratur über das armenische Recht auf, insgesamt drei Plastiktüten, um in Kiel die größte deutsche Spezialbibliothek auf diesem Gebiet zu gründen.
Früh am Morgen reisten die Professoren ab. Alexandras Vorgesetzter blieb noch ein paar Tage in Eriwan, um mit ihr verschiedene Hochschulpartner zu treffen. Am Montag sollte zudem in der Bibliothek der Staatlichen Universität die »Deutsche Ecke« eröffnet werden. Alle Anwesenden, darunter auch die deutsche Botschafterin, warteten Ewigkeiten auf das Eintreffen des Rektors in einem eiskalten Raum, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Nach seiner verspäteten Ankunft hielt der Rektor eine verjammerte Rede über den Niedergang der deutschen Sprache in Armenien und wurde dabei von mehreren Fernsehteams gefilmt, die Alexandra ihre Kameras ständig in den Nacken stießen.
Nach der Rede versprach der Rektor feierlich die Beseitigung des riesigen Wasserschadens in der »Deutschen Ecke«, danach ging es zum Empfang in sein Büro. Allen Anwesenden wurden vier Plastikbecher ausgehändigt, gefüllt mit Kaffee, Saft, Kognak und »Champagner«, und es folgten weitere ermüdende Erzählungen des Rektors. Alexandras Vorgesetzter, der mehrere Jahre lang stellvertretend die Außenstelle in Moskau geleitet hatte, meinte hinterher, dass das Prozedere für postsowjetische Universitäten eigentlich »normal gut« verlaufen sei.
Am nächsten Tag besuchten Alexandra und ihr Bonner Kollege den stellvertretenden Bildungsminister und Alexandra erfreute sich daran, dass Anzug, Hemd und Krawatte des Ministers jeweils unterschiedlich farbenfroh gestreift waren. Während des Pressegesprächs lärmten ständig die zu spät gekommenen Journalisten und nach zehn Minuten wurden mit lautem Getöse mitten im Gespräch die Mikrofone vor dem Minister, der Botschafterin und der deutschen Delegation abgebaut. Bei der anschließenden Befragung erkundigten sich die noch anwesenden Journalisten ausschließlich nach Stipendienmöglichkeiten für sich selbst. Am Ende verbreitete das Ministerium eine fehlerhafte Pressemitteilung, wonach die deutsche Spende zur Einrichtung der »Deutschen Ecke« nicht fünfzigtausend Euro, sondern fünfhunderttausend Euro betragen habe, und weigerte sich, die Zahl nachträglich zu korrigieren.
Wenige Tage nachdem die Kommission abgereist war, hatte sich weiterer hoher Besuch in Eriwan angekündigt. Erstmals besuchte der neue Leiter des Goethe-Instituts Tbilissi Armenien. Das Goethe-Institut Tbilissi war nicht nur für Georgien, sondern auch für Armenien und Aserbaidschan zuständig. Die Deutsche Botschafterin richtete einen Empfang in der Residenz aus und bereitete ein vielgelobtes Mousse au chocolat zu. Lange unterhielt ich mich mit einem armenischen Literaturprofessor, der Werke von Günter Grass und Peter Handke ins Armenische übersetzt hatte, und riet ihm, als nächstes nicht Patrick Süskinds »Das Parfüm«, sondern lieber Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt« zu übersetzen.
Der Professor erzählte, dass der Buchmarkt in Armenien völlig am Boden liege und von den einstmals vielen guten Buchhandlungen in Eriwan nur noch sechs existierten, die allesamt nicht mehr gut sortiert waren. So habe die wichtigste armenische Buchhandlung seine neue »Blechtrommel«-Übersetzung noch nicht ins Programm genommen, weil sie zunächst die restlichen Exemplare seiner Handke-Übersetzung verkaufen wolle. Ein anderer Übersetzer hatte mir erzählt, dass die meisten armenischen Bücher direkt ins Ausland an Exil-Armenier verkauft werden. Schon zweihundert verkaufte Exemplare galten in Armenien als Bucherfolg. Hochgerechnet auf die deutschen Verhältnisse bedeuteten das etwa fünftausend verkaufte Exemplare.
Am nächsten Tag fand in »The Club« ein weiteres Abendessen für den Goethe-Institutsleiter statt, mit der Botschafterin und hauptsächlich weiblichen Kulturmittlern. Ein Streichertrio begann zu musizieren und übertönte damit den Baulärm aus dem Obergeschoss. Der Institutsleiter schwärmte von der japanischen Bade- und Esskultur und von den wunderschönen Ukrainerinnen, die das Stadtbild von Kiew prägten. Beim Aufbruch erinnerte ich ihn an die liegengebliebenen Tüten mit seinen Unterlagen und Gastgeschenken und fügte diesen rasch ein eigenes Lesungskonzept hinzu.
Alexandra und ich wunderten uns über das armenische Fernsehen, dass in den Nachrichten zwar nicht über den Brand im Justizministerium berichtete, dafür aber am Samstagabend regelmäßig zur besten Fernsehsendezeit ein Militärmagazin mit Beiträgen über Taktiksitzungen, Reservistenübungen und Manövern im Freien ausstrahlte. Die Schneeanzüge des armenischen Militärs waren dünne beigefarbene Kapuzenanzüge zum Zubinden. Die Vorstellung, wie sich die Soldaten in den Bergen gegenseitig mit verfrorenen Fingern die Schneeanzüge zuschnürten, sagte viel über die zu erwartende Schlagkraft des armenischen Militärs aus. Womöglich war ich auch zum zweiten Mal im armenischen Fernsehen zu sehen gewesen, diesmal mit einem eher »Forrest Gump«-artigen Auftritt. Beim Spaziergang durch die Innenstadt kam ich an den Feierlichkeiten zum »Tag der Streitkräfte« vorbei und reihte mich versehentlich nicht in die Zuschauermenge, sondern in die Rednerreihe ein und wurde dabei von zahlreichen Fernsehkameras gefilmt.
Oft fiel in unserer Wohnung für ein paar Stunden das Wasser aus, schlimmer waren jedoch die überfallartigen Besuche unserer Vermieterin Sirousch. Sie hatte mich fest in ihr Herz geschlossen und schenkte mir ständig Gläser mit eingelegten Eigenartigkeiten, Obst oder Hirn, wir konnten es nicht beurteilen. Da Sirousch unseren Müll stets nach Nützlichem durchsuchte und wir viel Weggeworfenes in ihrer Wohnung wiederfanden, war es durchaus nicht einfach, die vielen Gläser unauffällig zu entsorgen.
Erst drei Wochen nach Vorlesungsbeginn gelang es Alexandra herauszufinden, welche Seminare sie im angefangenen Semester unterrichten sollte. In einem Fotoladen in der Innenstadt ließ sie für ein benötigtes Visum nach Kasachstan ein angeblich biometrisches Passfoto anfertigen und gemeinsam besuchten wir den Eröffnungsvortrag eines »Doktor Faustus«-Seminars, das von der Germanistik-Dozentin und Alexandras Russischlehrerin Jelena organisiert wurde. Der aufschlussreiche Vortrag der deutschen Dozentin bestärkte meine Vorurteile gegenüber Thomas Manns Spätwerk.
Alexandra eröffnete ein Konto bei der Pro Credit Bank und entdeckte auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Tchibo-Filiale, die zwar keinen Kaffee, aber den üblichen Schnickschnack anbot, etwa zwanzig Prozent teurer als in Deutschland, und erstand dort für den Bürocomputer eine Funktastatur.
Bei der Internetsuche nach Informationen über die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen fanden wir auf einer armenischen Nachrichtenseite eine Meldung mit der Überschrift »Vanadsors Bürger von Wölfen bedroht«. Sonntags waren wir zu einem köstlichen Brunch als Abschiedsessen ins Marriott Hotel eingeladen, an dem Tag, an dem Steffi Graf und Andre Agassi der Deutsche Medienpreis überreicht wurde. Beide wären auch ideale Schirmherren für die Deutschen Kulturwochen in Armenien gewesen, da Agassis Vater in Armenien geboren wurde, und sein Sohn nach Cher und Charles Aznavour zu den berühmtesten Auslands-Armeniern zählt. Während des Brunchs unterhielt ich mich mit einem armenischen Musil- und Rilke-Übersetzer und plante mit ihm lose die Herausgabe einer armenischsprachigen Anthologie zur deutschen Gegenwartsliteratur mit meinen Lieblingserzählungen. Anschließend spazierten Alexandra und ich durch die Eriwaner Innenstadt. Wir liefen über den Bildermarkt, besuchten den winterlichen Kirmespark und bewunderten den Mut zweier Mädchen, sich in ein wild rotierendes und sich überschlagendes Fahrgeschäft zu setzen.
Wir waren dafür zu feige, benutzten stattdessen die U-Bahn, fuhren bis zur Endstation und erkundeten dort die Gegend.