Öffentlicher Dienst: Edgar Eckert

Allegorien

Um 18 Uhr 30 verlasse ich die Wohnung und fahre mit der S1 zum Brandenburger Tor. Anschließend laufe ich einen Kilometer auf der Straße »Unter den Linden« bis zum Maxim Gorki Theater. Davor ein Bauzaun mit Fotos und Schaukästen mit Monitoren, auf denen Filmausschnitte zu sehen sind. Sie sind Teil der Ausstellung »100 + 10 – Armenian Allegories«, die im Inneren des Hauses weitergeht. Kurz nachdem ich im Theater angekommen bin, beginnt bereits der Einlass. Zum ersten Mal bin ich im Gorki Theater, das überraschend klein ist. Nur das Parkett ist offen und der Zuschauerraum vielleicht zu einem Drittel oder Viertel gefüllt. Das Stück in englischer Sprache, »Donation« von Atom Egoyan, ist ein sehr gut geplottetes Zwei-Personen-Stück, das als Interview anfängt und in einer Art Verhör endet. Aufhänger: Die Kostüme aus Atom Egoyans Film »Ararat« von 2002 sollen dem Gorki Theater gespendet werden. Die Schauspielerin Arsinée Khanjian, die Ehefrau von Atom Egoyan, spielt sich quasi selbst, ihr Gegenüber ist ein deutscher Archivar namens Günter.

»Donation« ist ein intensives, aber auch voraussetzungsreiches Kammerspiel mit vielen politischen Anspielungen, in dem zahlreiche Film-Einspielungen geschickt eingebaut sind. Ein Stück über das katastrophale Schicksal der Armenier in der jüngeren Geschichte, aber auch eine Liebeserklärung an Atom Egoyans Frau – einer Nacherzählung ihrer Familien- und Flüchtlingsgeschichte, ihrer Filmkarriere, ihres politischen Engagements, ihrer Krebserkrankung und des körperlichen Niedergangs. Der männliche Schauspieler Edgar Eckert ist eine Idealbesetzung, allein sein kurzes Aus-der-Rollen-Fallen beim Stichwort »Blitzkrieg« finde ich unglaubwürdig. Die Darstellung von Arsinée Khanjian überzeugt mich dagegen weniger, obwohl sie sich ja quasi selbst spielt – es ist wirklich kurios, doch stellenweise nehme ich ihr die Figur nicht ab und finde ihr Spiel übertrieben und gekünstelt. Trotzdem hat sich der Abend gelohnt. Dabei kann ich noch nicht einmal sagen, ob ich das Stück gut und die Verbindung aus Aufklärung, Anklage und Huldigung angemessen finde – es spielt auch gar keine Rolle, da das Stück so eindringlich ist und mich zum Nachdenken genau über diese Fragen anregt.

Hinterher bin ich tief bewegt. »Donation« ist das erste Theaterstück, das ich in Jahrzehnten gesehen habe, das mich tatsächlich berührt hat. Ich verlasse das Gorki Theater und laufe zurück zur U-Bahnstation. Der Bahnsteig ist verwaist, nur ein alter Mann schlurft langsam zu den Verkaufsautomaten neben der Sitzbank. Er schaut in die Münzrückgabefächer, die alle leer sind. Ich habe Mitleid mit dem Mann, zücke mein Portemonnaie, nehme ein Zwei-Euro-Stück heraus und gehe zu dem Mann. Entschuldigen Sie, sage ich. Er zuckt zusammen und schaut mich furchtsam an. Dann sieht er die Münze und hält die Hand auf, die ziemlich dreckig ist. Ich lege die Münze hinein, die Hand schließt sich und der Mann lächelt mich selig an. Sein dankbarer Blick geht mir unter die Haut wie ein Zeichnung von Käthe Kollwitz. Ich nicke und entferne mich wieder. Der alte Mann dreht sich um. Er tritt an den Automaten und wirft das Geldstück oben in den Münzschacht. Ich befürchte das Schlimmste und umrunde nervös die Sitzbank. Ein Flehen ertönt. Von hinten nähere ich mich heimlich dem Mann, der klagend vor dem Automaten steht. »Das Geld … das ich gerade bekommen habe … ist weg!« Die Maschine hat die Münze einfach geschluckt. Der Mann drückt auf alle Tasten, doch es hilft nichts. Er bekommt weder ein Produkt, noch seine zwei Euro zurück. Eine S-Bahn fährt ein. Es ist nicht meine. Mit leeren Händen schlurft der alte Mann zur Bahn. Der Warnton erklingt bereits und gerade noch, bevor sich die Türen schließen, schafft es der alte Mann in den Wagen und fährt davon.

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