Aus dem kostenlosen E-Book »Wremen am Ende« (epub, mobi).
Ich heiße Katja, bin siebenunddreißig Jahre jung und habe mein Hobby zum Beruf gemacht. Also schon immer interessiere ich mich für Schmuck. In meiner Kindheit fuhr ich in den Ferien oft nach Holland und suchte dort an den Stränden nach Muscheln oder Schnecken, hauptsächlich aber nach Haifischzähnen. Das sind tatsächlich Haifischzähne, allerdings fossile, die schon Abermillionen Jahre alt sind. Die hab ich dann zu Ketten, Broschen und Ohrringen verarbeitet, alles ganz allein und alles nur für mich. Als ich dann vor drei Jahren arbeitslos wurde, dachte ich mir, hey, warum machst du das denn nicht für Geld? Ich stellte also daheim Schmuck her und begann, diesen zu verkaufen. Erst für Bekannte, später auch auf Trödelmärkten. Das kam recht gut an. Ja, dann habe ich mir überlegt, ob man den Handel nicht professioneller aufziehen könnte. Ein eigener Laden war mein Traum, doch mir war auch klar, dass man die Miete dafür kaum aufbringen kann. Doch dann kam mir diese geniale Idee. An unserer Post standen seit Ewigkeiten schon drei kaputte Telefonzellen herum, die nicht mehr benutzt wurden. Die Lage war ideal, direkt am Markt, ich habe dann also bei der Post angefragt, ob ich die Zellen mieten kann, und die haben nach einigem Zögern tatsächlich zugestimmt. Daraufhin habe ich die Zellen angemietet und mit Hilfe meiner Freunden aus- und umgebaut. Also die Zwischenwände rausgenommen und mir darin dann meinen eigenen Laden eingerichtet. Mit Tisch, Stuhl, Stellwänden. Alles natürlich sehr eng, aber für mich reicht es. Hier drinnen verarbeite ich nun die Haifischzähne, die ich im Urlaub finde, zu Schmuck, stelle ihn aus und verkaufe ihn auch. Damit komm ich ganz gut über die Runden. Und außerdem bin ich mein eigener Chef. Montags und mittwochs habe ich von zehn bis sechzehn Uhr geöffnet. Dienstags und donnerstags von vierzehn bis achtzehn Uhr. Freitags und samstags habe ich frei.
Karl Schelfe (: Hülsenfruchtschote; Obst-, Nuß-, Kartoffelschale) = Verleger, Dichter, Schriftsteller, Setzer, Binder, Leser und Rezensent seiner Werke : exegi monumentum aere perennius. Obwohl nur zwanzig Menschen (aber was für welche) seine Bücher lesen, druckt er immer gleich neunhundertneunundneunzig. Er kann es sich leisten : Lehrer, Beamter, Altphilologe, Oberstudienrat = die Schulbehörde hat Karl Schelfe untersagt, seine Werke im Unterricht zu verbreiten.
Darf man in der Wohnung rauchen?
Wie geht der Herd an?
Kann man den Anrufbeantworter abstellen?
Der Fleck auf dem Teppich stammt nicht von mir
Sondern vom Vorgast
Heiner Goebbels
Behaupte ich
Der Teppich ist jetzt ein Vermögen wert
Gibt es einen Fön?
Wie funktioniert die Spülmaschine?
Darf ich in das Waschbecken–
Am Dienstag ist mein Nudelwasser übergekocht
Fast eine Stunde lang
Habe ich das Ceranfeld geschrubbt
Nach intensiver Internetrecherche
Im Treppenhaus
Vor dem Fahrstuhl
Netzwerk: Cafe
Passwort: goethe!89?
Wir gedenken 20 Jahre Mauerfall
Die Lehrmeinungen gehen auseinander
Manche empfehlen Essig
Andere heißes Wasser und viel Geduld
Unter der Spüle fand ich einen Spezialreiniger
Von Hagesan
Es hat alles nichts geholfen
Das schiebe ich Doktor Blömeke in die Schuhe
Oder Doktor Eder
Meine Bilanz:
Ein zerbrochener Deckel
Mein Vorschlag zur Anschaffung:
Eine Teekanne
Eine Thermoskanne
Und Vorhänge in der Küche und im Arbeitszimmer
Wie alle Schriftsteller
Arbeite ich am liebsten nackt
Zum Beispiel wie man Rolltreppe fährt
Oder Auto
Wie man durch eine Drehtür geht
Und einen Kontoauszugsdrucker bedient
Wie man den Briefkasten leert
Die Zeitung aufschlägt
Den Computer hochfährt
Oder den Fernseher einschaltet
Eigentlich kann man gar nicht genug verlernen
Würde ich den Frauen und Männern hinterher schauen
Könnte ich singen und tanzen
Würde ich nachts noch ein Eis in der Fußgängerzone essen
Dann könnte man mich im IZBA Café treffen
Oder am Donaustrand
Im Bunker Hill bei Drum ’n’ Bass
Im CK13 bei Ska und Rock ’n’ Roll
Dann würde ich das Meer vermissen
Und nicht in der Donau schwimmen
Wegen der Erinnerung
Und wegen der Strömung
Dann sähe ich die Welt vor die Hunde gehen
Und würde zu viel Sport schauen
Die Hooligans verfluchen
Janković und Đoković und allen Serben die Daumen drücken
Dann würde ich Turbo Folk nicht mögen
Und die Einkaufszentren meiden
Über Land und Leute schimpfen
Häufig ins Theater gehen
Dann hätte ich alles von Tišma und Kiš gelesen
Und vieles von Bukowski
Dann würde ich zu viel rauchen
Zu viel trinken
Handke nicht verstehen
Dann wäre ich dankbar für die Art Klinika
Hätte kein Exit-Festival verpasst
Würde oft in Belgrad sein
Und viele Sprachen sprechen
Dann hätte ich an der Universität Probleme
Und Angst vor Krankenhäusern
Dann wäre ich gern Comiczeichner geworden
Wie so viele meiner Freunde
Die Andreja, Djula, Dušan, Endre, Jelena, Marija und Nemanja heißen
Ozren und Tatjana
Dann hätte ich gern ein Atelier in Petrovaradin
Und in der Šok Galerie gelesen
Dann würde ich immer die gleichen Gesichter sehen
Dann wäre mir manchmal langweilig
Und Novi Sadi zu klein
Dann würde ich einen Roman schreiben
Über die Gegenwart
Das Hier und Jetzt
Nach den Kriegen
Nach den Krisen
Dann würde ich der Welt misstrauen
Und an die Kunst glauben
Häufig selber kochen
Viel Gemüse
Wenig Fleisch
Dann wäre ich in der Synagoge
Beim Klavierkonzert
Im Beljanski-Museum
Gläsern in der Stadt
Und stark
Wenn ich jung wäre und aus Novi Sad käme
Dann hätte ich Freunde auf der ganzen Welt
Dann würde ich diese Zeilen nicht auf einem MacBook schreiben
Die armenische Kirche im Zentrum vermissen
Und eine Gedächtnistafel für Mileva Marić
Dann würde ich vielleicht ein zweites Mal die Walnussnudeln bestellen
Meinen Pass nie abgeben
Und gar nicht überrascht sein
Dass man in Deutschland keinen vernünftigen Reiseführer kaufen kann
Dann bräuchte ich die Stadt nicht in mein Zimmer tragen
Dann würde ich den Paraglidern über der Stadt zusehen
Uns dieselbe Musik hören wie in diesem Augenblick
Dann wüsste ich
Dass Novi Sad nicht in Sibirien liegt
Dann wäre wahrscheinlich alles anders
Jederzeit
Erstveröffentlichung – zusammen mit den Übersetzungen ins Englische und Serbische – in »Little Global Cities, Streifzüge durch Novi Sad« (Kerber Verlag 2012).