Öffentlicher Dienst: Berlin

Allegorien

Um 18 Uhr 30 verlasse ich die Wohnung und fahre mit der S1 zum Brandenburger Tor. Anschließend laufe ich einen Kilometer auf der Straße »Unter den Linden« bis zum Maxim Gorki Theater. Davor ein Bauzaun mit Fotos und Schaukästen mit Monitoren, auf denen Filmausschnitte zu sehen sind. Sie sind Teil der Ausstellung »100 + 10 – Armenian Allegories«, die im Inneren des Hauses weitergeht. Kurz nachdem ich im Theater angekommen bin, beginnt bereits der Einlass. Zum ersten Mal bin ich im Gorki Theater, das überraschend klein ist. Nur das Parkett ist offen und der Zuschauerraum vielleicht zu einem Drittel oder Viertel gefüllt. Das Stück in englischer Sprache, »Donation« von Atom Egoyan, ist ein sehr gut geplottetes Zwei-Personen-Stück, das als Interview anfängt und in einer Art Verhör endet. Aufhänger: Die Kostüme aus Atom Egoyans Film »Ararat« von 2002 sollen dem Gorki Theater gespendet werden. Die Schauspielerin Arsinée Khanjian, die Ehefrau von Atom Egoyan, spielt sich quasi selbst, ihr Gegenüber ist ein deutscher Archivar namens Günter.

»Donation« ist ein intensives, aber auch voraussetzungsreiches Kammerspiel mit vielen politischen Anspielungen, in dem zahlreiche Film-Einspielungen geschickt eingebaut sind. Ein Stück über das katastrophale Schicksal der Armenier in der jüngeren Geschichte, aber auch eine Liebeserklärung an Atom Egoyans Frau – einer Nacherzählung ihrer Familien- und Flüchtlingsgeschichte, ihrer Filmkarriere, ihres politischen Engagements, ihrer Krebserkrankung und des körperlichen Niedergangs. Der männliche Schauspieler Edgar Eckert ist eine Idealbesetzung, allein sein kurzes Aus-der-Rollen-Fallen beim Stichwort »Blitzkrieg« finde ich unglaubwürdig. Die Darstellung von Arsinée Khanjian überzeugt mich dagegen weniger, obwohl sie sich ja quasi selbst spielt – es ist wirklich kurios, doch stellenweise nehme ich ihr die Figur nicht ab und finde ihr Spiel übertrieben und gekünstelt. Trotzdem hat sich der Abend gelohnt. Dabei kann ich noch nicht einmal sagen, ob ich das Stück gut und die Verbindung aus Aufklärung, Anklage und Huldigung angemessen finde – es spielt auch gar keine Rolle, da das Stück so eindringlich ist und mich zum Nachdenken genau über diese Fragen anregt.

Hinterher bin ich tief bewegt. »Donation« ist das erste Theaterstück, das ich in Jahrzehnten gesehen habe, das mich tatsächlich berührt hat. Ich verlasse das Gorki Theater und laufe zurück zur U-Bahnstation. Der Bahnsteig ist verwaist, nur ein alter Mann schlurft langsam zu den Verkaufsautomaten neben der Sitzbank. Er schaut in die Münzrückgabefächer, die alle leer sind. Ich habe Mitleid mit dem Mann, zücke mein Portemonnaie, nehme ein Zwei-Euro-Stück heraus und gehe zu dem Mann. Entschuldigen Sie, sage ich. Er zuckt zusammen und schaut mich furchtsam an. Dann sieht er die Münze und hält die Hand auf, die ziemlich dreckig ist. Ich lege die Münze hinein, die Hand schließt sich und der Mann lächelt mich selig an. Sein dankbarer Blick geht mir unter die Haut wie ein Zeichnung von Käthe Kollwitz. Ich nicke und entferne mich wieder. Der alte Mann dreht sich um. Er tritt an den Automaten und wirft das Geldstück oben in den Münzschacht. Ich befürchte das Schlimmste und umrunde nervös die Sitzbank. Ein Flehen ertönt. Von hinten nähere ich mich heimlich dem Mann, der klagend vor dem Automaten steht. »Das Geld … das ich gerade bekommen habe … ist weg!« Die Maschine hat die Münze einfach geschluckt. Der Mann drückt auf alle Tasten, doch es hilft nichts. Er bekommt weder ein Produkt, noch seine zwei Euro zurück. Eine S-Bahn fährt ein. Es ist nicht meine. Mit leeren Händen schlurft der alte Mann zur Bahn. Der Warnton erklingt bereits und gerade noch, bevor sich die Türen schließen, schafft es der alte Mann in den Wagen und fährt davon.

Berliner Straße

Sonntag, 9. März 2025, Berlin

Gegen 17 Uhr fahren Alexandra und ich vom Hansaplatz mit der U9 Richtung Steglitz. An der Station Berliner Straße gibt es eine Durchsage – alle müssen aussteigen, weil die U-Bahn nicht mehr weiterfahre. Stellwerkprobleme. Ein Herr im hellen Trenchcoat schaut sich ratlos um und spricht Alexandra und mich an. »Wie geht es denn jetzt weiter?« Unterm Arm trägt er die aktuelle Ausgabe der Literaturzeitschrift »Sinn und Form«. Alexandra wiederholt, was sie verstanden hat, er nickt und ich erkundige mich, ob er der Gesprächspartner in einem Interview in der Literaturzeitschrift sei. Er schaut mich überrascht an und bejaht die Frage. Ich erkläre, dass ich das Interview mit großer Freude gelesen habe und er darin ja erzähle, dass es ihm in Berlin oft passiere, dass ihn Leserinnen und Leser seiner Werke auf der Straße ansprechen … Diese Aussage wolle ich nun gern bestätigen und gebe mich als Bewunderer seiner Texte und Bücher zu erkennen. Uwe Timm lächelt beglückt. Er berichtet, dass er die Ausgabe gerade erst erhalten habe, bei einem Treffen mit einem Freund. Eine neue Durchsage ertönt: Die U-Bahn fährt doch noch eine Station weiter. Wir steigen wieder ein und plaudern vergnügt während der kurzen Fahrt. Am Bundesplatz müssen dann alle Fahrgäste die U-Bahn verlassen und am Bahnsteig tippe ich meinen Namen und meine E-Mail-Adresse in Uwe Timms Handy. Anschließend verabschieden wir uns voneinander. Uwe Timm ist am Ziel und Alexandra und ich setzen unsere Reise mit dem Bus fort.

Fahimi Bar

Die 17. Ausgabe der Metamorphosen, die von mir als Gastherausgeber betreut wurde, heisst ALLE MEINE EX-FREUNDE und wird am Dienstag (2. Mai 2017) in der Fahimi Bar in Berlin vorgestellt. Schauspieler und Säräh Sweetmilk (@milch_honig) lesen Texte, zudem werde ich im Gespräch und in Bildern die Ausgabe vorstellen, die Texte von Sofia Banzhaf, Beach Sloth, Megan Boyle (@meganassboyle), Jordan Castro (@jordancastroisthepresident), Elizabeth Ellen, Spencer Madsen (@spencermadsen), Adeline S. Manson (@addiepup), Memeoji, Guillaume Morissette (@anxietyissue), Tao Lin (@mtgjdfjdfgukkhddtyhcffghhvdfyg), Stacey Teague (@staceyteague) und Nadia de Vries (@ripnadiadevries) und Übersetzungen von Tobias Amslinger, Ann Cotten, Moritz Müller-Schwefe, Clemens J. Setz (@clemensetz), Lukas Valtin, Michael Watzka und Ron Winkler enthält. Es wird garantiert ein bunter, unterhaltsamer Abend! Die Türen öffnen um 20 Uhr, um 21 Uhr beginnt die Show. Der Eintritt kostet 4 Euro. #allemeineexfreunde #altlit #newsincerity #SofiaBanzhaf #BeachSloth #MeganBoyle #JordanCastro #ElizabethEllen #SpencerMadsen #AdelineSManson #Memeoji #GuillaumeMorissette #TaoLin #StaceyTeague #NadiadeVries #TobiasAmslinger #AnnCotten #MarcDegens #MoritzMüllerSchwefe #ClemensJSetz #LukasValtin #MichaelWatzka #RonWinkler

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Literatur und Geselligkeit. Die Begeisterungsshow im Berliner Kaffee Burger. Von Michael Rutschky.

Diese Geschichte ist kompliziert. Sie handelt von dem Quellort einer neuen Avantgarde, die sich hier regelmäßig versammelt, im Berliner Kaffee Burger, wobei man das „Kaffee“ nicht französisch schreibt, sondern wie das deutsche Wort. Ein schwer ostig inszeniertes Lokal in der ehemaligen Wilhelm-Pieck-Straße, halbdunkel-gemütlich, ornamentierte Tapeten, unbequeme Stühle.

Radio Hochsee heißt beispielsweise eine Veranstaltung, die hier regelmäßig stattfindet. Oder eben Begeisterungsshow, von der jetzt erzählt wird. An jedem letzten Montag des Monats rollt sie ab, und man könnte sie als eine Art performatives Feuilleton charakterisieren, wenn das viel sagen würde.

Aber die Geschichte ist eben kompliziert. Ein Internet-Magazin namens satt Punkt org veranstaltet die monatliche Begeisterungsshow und ist gleichzeitig mit einem Kleinstverlag namens SuKuLTuR vernetzt, der gelbe Lesehefte – wie von Reclam – publiziert. Wer drei Euro Eintritt bezahlt, bekommt das neueste Exemplar. Gestern war es Moldawien von Timo Berger, eine deutsch-lateinamerikanische Liebesfarce in 17 Druckseiten, mit zwei schönen Zeichnungen von Ana Albero. Außerdem erhält der Besucher der Begeisterungsshow ein Los; denn es findet dabei eine Tombola statt. Bücher waren diesmal die Preise, das Juniheft der Zeitschrift Merkur, Musik-CDs und außerdem – für Leute, die weder lesen noch Musik hören – ein Tischstaubsauger, ein Laserpointer und eine Schachtel mit Messerbänkchen.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: dies ist nicht Kabarett mit Publikumsbeteiligung (alle Gewinner wählten übrigens den Lese- und Hörstoff). Der Gestus, den die Moderatoren kultivieren – Marc Degens und Frank Maleu, auf der Bühne an den Laptops zu sehen ist außerdem Torsten Franz, der das Bildprogramm, auf die Stirnseite projiziert, steuert – , der Gestus der Begeisterungsshow ist der einer kunstvollen Kindlichkeit, der Begeisterung eben, wie sie auch Harald Schmidt in seiner Fernsehshow vorzuführen liebte. Was Degens und Maleu und die Ihren präsentierten, begleiteten sie immer wieder mit der Formel „und das hat mich begeistert“. Kulturkonsum unter Hochrufen, sozusagen, als ästhetische Veranstaltung vor einem Publikum, das, zwischendurch Bier und andere Getränke an der Theke holend, auch leise plaudernd, so etwas zu goutieren versteht.

Was begeisterte aber? Homers Ilias beispielsweise, in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt, gelesen von Rolf Boysen: Schauer laufen ihm über den Rücken, gestand Tobias Lehmkuhl und kam artig auf die abendländische Literatur zu sprechen, die von Homer ihren Ausgang nehme. Dazu gab es ein Bild des schönen Brad Pitt, der Achill in Wolfgang Petersens Troja-Film, zu bewundern. Und natürlich kein kritisches Wort über diesen Film, sondern nur Begeisterung.

Sie entfachte auch die Musik von Felix Kubin und von den Boxhamsters aus Gießen, des Trios Der Plan, das sich eben neu formiert hat und glorreich in die Neue Deutsche Welle der Achtziger zurückführt. Marc Degens befragte den maulfaulen Moritz Reichelt, dessen von Südseekunst inspirierte Malerei unterdessen als Projektion zu sehen war. Ja, alles dicht vernetzt eben: Reichelt ist auch Maler (er gehörte seinerzeit locker zu den Jungen Deutschen Wilden), und was er über Der Plan erzählte, führte in die verwickelten Genealogien, die solche Musiker verbinden und von ihren Fans wie kostbares Bildungswissen gehortet werden. Vernetzung eben, die, neben der Begeisterung – wenn man neuen Managementlehren folgt – , einen modernen Betrieb charakterisieren (den alten Betrieb charakterisierten Hierarchie und Lähmung). Auch in dieser Hinsicht ist das Kaffee Burger also auf der Höhe der Zeit.

Sodann begeisterten gestern abend ein palästinensischer Experimentalfilm und die Comics von James Kochalka – aber dies hier ist ohnedies nur eine Auswahl. Wer im Netz auf satt Punkt org geht, den überschütten Informationen; und das Kaffee Burger findet sich in der Torstraße 60; durch Goldfarbe gehöht glänzt der Name in den Fenstergittern.

(Gesendet im Deutschlandfunk, Kultur heute, 1. Juni 2004)

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